Der Autochthon

Ein Autochthon auf der Flucht, vergebens.

Ein mal Autochthon, immer Autochthon.
Auch heute, 2010, fühle ich wie ein Autochthon von damals, und schon wieder sind um mich herum MIGRANTEN!

 

Ja, ich war ein Autochthon. Als ich es erfuhr, war ich etwa 7, 8 Jahre alt. Es war schrecklich: Ein Autochthon! Was ist das?

Es kam so. Eines Tages verteilte unser Klassenlehrer Zettel an uns Schüler. Die waren auszufüllen. Eine der Fragen war: AUTOCHTHON: Ja, oder Nein.

Autochthon? Was ist das? Natürlich wussten wir nicht, ob wir es seien, oder nicht. Der Lehrer sagte uns, wir sollten zuhause nachfragen und dann den Fragebogen fertig ausfüllen. Meine Geschwister, wir lebten zu dieser Zeit alle drei in einer Wohnung; inzwischen wurden wir VERIFIZIERT (zu Polen, zu polnischen Bürgern erklärt), wussten es auch nicht.
(Verifiziert zu werden  war wichtig, denn nur die Verifizierten hatten Anspruch auf irgendwelche Leistungen des Staates. In unserem Falle war es die Waisenrente. Verifizierte bekamen, verzögert, nach einer Wartezeit von mindestens einem Jahr aber dann doch eine kleine Waisenrente. Migranten, zugezogene Polen, bekamen Leistungen sofort.)

Ich war also ein Autochthon, ein Eingeborener, ein Zwangs-Pole ohne Migrationshintergrund. Migranten, ob sog. Repatrianten aus Frankreich/Belgien, oder Umgesiedelte aus der polnischen Ukraine, oder abkommandierte „Partisanen“, die ihren Kriegs-Dienst weiter im Feindesland verrichten sollten, oder arme Polen aus dem polnischen Hinterland, waren die Herren im Lande.
Wer von den „Partisanen“ schreiben und lesen konnte, wurde Lehrer an den schlesischen Schulen. Die wichtigste Aufgabe für diese „Lehrer“ war, die Autochthon zu Polen zu „erziehen“ und zusätzlich noch, zu "sozialistischen Menschen"..

Alle Beamtenstellen wurden mit Migranten, mit Zugewanderten besetzt, die unsere Sprache nicht beherrschten. Wollte man an ein Amt, musste ein Dolmetscher mitgenommen werden.

Geheimpolizisten wurden losgeschickt, um Deutschsprechende zu jagen und festzunehmen. Es wurde an den Haustüren gelauscht. Überfallartige Wohnungsbesuche wurden durchgeführt und dabei das Radio-Gerät eingeschaltet. Der zuletzt gehörte Sender wurde damit aktiviert, war es Radio-Luxemburg, oder gar RIAS-Berlin, wurde verhaftet und abgeurteilt. Menschengruppen, ob in der Straßenbahn, oder im Geschäft, wurden belauscht. Es durfte nur geflüstert werden. Es wurde denunziert. Einige Nachbarn haben genau hingehört.

Deutsch sprechen verboten

Als Autochthon war man Mensch 2. Klasse. Es wurde diskriminiert. In der Schule gab es nie eine gute Note. Obwohl ich einen Schul-Lesewettbewerb gewonnen hatte, wurde der Sohn eines Frankreich-Polen, eines  Migranten (der Lubon) zum Landeswettbewerb geschickt. Die Lehrer haben uns geprügelt.

Für uns gab es nur Arbeit in der Steinkohlen-Grube Untertage. Der Berufsweg dorthin, war für mich vorgezeichnet und selbstverständlich. Die Arbeitsverhältnisse untertage, waren verheerend, lebensgefährlich, die Normen unmenschlich hoch, die Ernährung mangelhaft. Die Aufseher und höhere Angestellten, waren alles Migranten – einige Verräter, Schlesier, waren auch dabei – das waren noch die schlimmsten.

Einige von uns haben sich „kaufen“ lassen. Es waren Verräter. Sie bekamen dann Arbeit „Übertage“, im Büro, oder Untertage als Aufseher. Berüchtigt war der Job als „Planista“, im Planungsbüro. Wirklich was zu tun, gab es für diese Leute dort nicht
Die Milizen zeichneten sich durch besondere Härte aus, wenn  Autochthon betroffen waren. Als 10jähriger wurde ich von der Miliz verhaftet, verhört, in eine dunkle Zelle gesperrt und mit dem Gummiknüppel verprügelt. Es soll um eine gestohlene Kette gegangen sein. Ich sollte zugeben, diese gestohlen zu haben. Der mitbeschuldigte Migrantensohn, durfte sofort nachhause gehen. Wie lange ich in dieser Zelle eingesperrt gewesen bin, weiß ich nicht. In der Dunkelheit, alleine, lässt sich die verstrichene Zeit nicht abschätzen. Als ich nachhause durfte, humpelnd, denn die Schläge gegen die Waden mit dem Gummiknüppel schmerzten sehr, war draußen dunkel.

Die Straßenbahnen hatten einen Waggon 1.Klasse. Das war der erste von drei. Für uns war der dritte Wagen vorgesehen. Zu erkennen waren wir an der Sprache und auch an der Kleidung. Nach 10 Jahren bekam ich das erste Paar Schuhe. Neue Schuhe ! Gespendet von den Eltern meiner Schule, die gesammelt haben.
 Es hat sich eine eigene Sprache entwickelt, das „Wasserpolnisch“. Polnische Wörter mit deutscher Endung und umgekehrt. Entstanden aus dem Zwang, eine fremde Sprache zu benutzen, die man nicht beherrschte. Die Migranten konnten keinen Satz verstehen. Für die war es eine völlig fremde Sprache.

Für mich war das Anlass, die Sprache des Feindes möglichst perfekt zu erlernen. So mancher Migrant war geschockt, als ich im Verlauf einer Diskussion zu verstehen gab, dass ich ja Autochthon sei. Das hat mir geholfen, einen Platz im Abendgymnasium zu ergattern und das polnische Abitur zu machen.

Die Diskriminierung und Unterdrückung wurde mir irgendwann (1964) doch zu viel. Weil ich mich nicht anpassen wollte, immer politisch unkorrekt gewesen bin, kein Gutmensch eben und Verhaftung drohte. Um dieser Verfolgung als Autochthon zu entgehen, nahm ich die erste Gelegenheit zu Flucht wahr, obwohl es lebensgefährlich gewesen war. 1965 wurde ich im Bundesgebiet begrüßt.

Seit einigen Jahrzehnten in der BRD, kommt dieses „komische Gefühl“, „nur“ ein Autochthon zu sein, wieder auf.

Schon wieder dreht sich alles um Migranten, um Zugezogene, um Siedler. Ich werde auch ein wenig gezwungen, wieder eine fremde Sprache, jetzt Englisch, zu sprechen. Nach 20 Jahren Verfolgung und Verbot die eigene Sprache, Deutsch, zu sprechen, fällt es mir schwer, dieses aufgezwungene (subtil aufgezwungen, in dem das Deutsch abgewertet wird) Englisch zu akzeptieren.

Will man bestimmte Deutsche Musik hören, muss man sich vor den Nachbarn in Acht nehmen. Es ist verboten, auch der Besitz ist verboten. Nicht den Migranten, deren Musik mag triefen vor Mordlust und „Volksverhetzung“ – die dürfen das.

Es entwickelt sich eine eigene Sprache, ähnlich dem "Wasserpolnisch" in Schlesien, ein "Wasserdeutsch", auch "Kanak sprak" genannt. Hier von den Migranten kommend.

Verboten und bestraft wird die "Volksverhetzung", wenn Autochthon gegen Migranten "hetzen".

„Volksverhetzung“ ist nur dann strafbar, wenn Autochthon gegen Migranten „hetzen“. Hetzen Migranten gegen uns, die Eingeborenen, dann ist es Folklore. Schon eine vorsichtige Parteiname für die Autochthon, wird als "Volksverhetzung" ausgelegt

Die latente Angst: „Die holen dich ab, verhaften dich“, ist wieder vorhanden. Zunächst wird man finanziell ruiniert. Aber auch der Trotz – der 10jährige hat sich nicht brechen lassen, der bald 70jährige wird ebenfalls standhalten.

Ich will mich weigern! Ich will (wieder) politisch unkorrekt sein! Ich werde wieder kein Gutmensch werden, kein Angepasster. Wenn es sein muß, werde ich wieder fliehen. Aber wohin?

Ein Autochthon auf der Flucht!
Ich bin ein Bürger ohne Migrationshintergrund, ein Bürger 2. Klasse (?). Wie damals in Schlesien.

In meiner Kindheit, wurden Verbrechen an Eingeborenen belohnt
Jetzt, im Alter, werden Verbrechen an Eingeborenen, nicht wirklich bestraft.

Mein Vorbild ist der Leugner Jan Huss


Ein "Leugner" wird verbrannt
am Nachmittag des 6. Juli 1415 auf dem Brühl, zwischen Stadtmauer und Graben (Konstanz)

Migrant - Wanderer
Autochthon -. Eingeborener